F. Rossinelli: Géographie et impérialisme

Cover
Titel
Géographie et Impérialisme. De la Suisse au Congo entre exploration géographique et conquête coloniale


Autor(en)
Rossinelli, Fabio
Erschienen
Neuchâtel 2022: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
747 S.
Preis
€ 29,90
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Ausgehend von seinem schon 2013 publizierten Aufsatz zur Genfer Geografischen Gesellschaft hat Rossinelli in seiner nun vorliegenden Lausanner Dissertation in jahrelanger Arbeit das Abklärungsfeld auf die ganze Schweiz ausgeweitet und materialreich dargelegt, wie sich Schweizer Geografen mit ihren Abklärungen in den Dienst des europäischen Kolonialismus gestellt haben. Er widerlegt in überzeugender Weise die alte und noch zu Beginn dieses Jahrhunderts aufgefrischte Vorstellung, dass die Schweiz, weil ohne Meeresanstoss und ohne Marine, an der kolonialen Expansion nicht beteiligt gewesen sei – damit also «nichts zu tun» gehabt habe, so eine oft zitierte Erklärung eines Bundesbeamten anlässlich der UN-Konferenz von Durban 2001.

Rossinelli spricht sich in einem längeren Eingangskapitel dafür aus, dass nicht der Kolonialismus, sondern der Imperialismus der zutreffendere Begriff und dass dieser nach der alten marxistischen These vor allem durch kapitalistische Interessen angetrieben gewesen sei. Dem kann man folgen – oder auch nicht. Rossinelli weist immerhin nach, dass sich Genfer Bankiers an der Genfer Geografischen Gesellschaft beteiligten, es muss aber eine Vermutung («il n’est pas abusif de penser») bleiben, dass sie damit eine Orientierungshilfe für ihre Überseeinvestitionen erlangen wollten. An anderer Stelle wird dargelegt, dass Geografen auch unabhängig von materiellen Interessen einzig aus ideologischen Motiven überzeugte Befürworter der kolonialen Expansion waren.

Wichtig ist der Befund, dass schweizerische Akteure nicht nur sekundär, wie bisher anerkannt, im Kielwasser der grossen Kolonialmächte, sondern in gewissen Fällen auch wegbereitend in der Vorhut aktiv waren. Rossinelli bekräftigt einleuchtend die These, dass sich der informelle und private Kolonialismus gerade wegen des Ausbleibens des formellen und offiziellen Kolonialismus entfaltete (S. 70). Dabei legt er auch die Vorstellung nahe, dass selbst in den formellen Kolonialmächten wesentliche Impulse von privaten Kräften ausgingen, so dass der Unterschied zwischen formeller und informeller Beteiligung geringer und die Schweiz diesbezüglich weniger ein Sonderfall als angenommen ist. Er betont, dass abgesehen von der dem Föderalismus geschuldeten Vielzahl von geografischen Vereinigungen, sich diese in ihrer Ideologie nicht von den Geografen der Kolonialmächte unterschieden (S. 249). Doch statt einzig nach nationalstaatlichen Unterschieden Ausschau zu halten, empfiehlt Rossinelli, mit transnationaler Optik die länderübergreifend gleichartigen Engagements der bürgerlichen Kräfte in den Blick zu nehmen, die in einer Kombination von immateriellen-wissenschaftlichen und materiellen-kapitalistischen die Welt erschliessen wollten. Denken wir an den europäischen Kolonialismus, denken wir tendenziell – neben der Beteiligung an der nordamerikanischen Landnahme – zuerst an die Kolonisierung Afrikas. Auch das «schöne» Cover der vorliegenden Publikation entspricht dieser Perspektive. Die Detailanalyse zeigt jedoch, dass das in der Schweiz gepflegte koloniale Interesse in alle Windrichtungen ging und Asien und Ozeanien dabei grosse Segmente bildeten (S. 295–304).

Rossinelli stellt die verschiedenen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aktiv gewordenen geografischen Organisationen vor, zunächst wiederum diejenigen von Genf, dann die halb kooperierenden, halb konkurrierenden weiteren Gesellschaften in den Kantonen Bern, St. Gallen, Aargau, Neuenburg, Zürich und Appenzell sowie die Bemühungen um die Schaffung einer gesamtschweizerischen Gesellschaft. Bestätigt wird, dass sich die offizielle Schweiz zurückhielt, allerdings ohne völlig abseits zu bleiben. Sie habe sich «hinter den Kulissen» und nicht vorne auf der Bühne bewegt (S. 605). Um 1890 waren drei der sieben Bundesräte gleichzeitig Mitglieder von geografischen Gesellschaften. Recht gut fassbar wird die vom Neuenburger Bundesrat Numa Droz eingenommene Haltung, die man bisher vor allem von der oft zitierten Erklärung kannte: «Darüber sind alle Nationalökonomen einig, dass, um zu kolonisieren, ein Staat ein Küstenland sein und also auch eine Flotte haben muss.» Dem steht Droz’ weitere ebenfalls vor dem internationalen Geografenkongress von 1891 in Bern gemachte Aussage gegenüber, mit der er sich doch zum Kolonialismus bekennt: «Si nous ne sommes pas un peuple de marins, nous n’en avons pas moins nos explorateurs et nos colonisateurs.» (S. 9 und 103). Als Mitglied der Lan- desregierung engagierte er sich bei der Schaffung einer Dachorganisation der kantonalen Vereine.

Die privaten Organisationen wollten das Heft der Welterschliessung in der Hand behalten und waren gegen eine Stärkung der konsularischen Vertretungen, aber sie erwarteten und erhielten Bundessubventionen. Über deren Dimensionen und insbesondere über die private Unterstützung durch interessierte Kreise erfährt man wenig. Die Budgets werden im Vergleich mit ausländischen Schwesterorganisationen als bescheiden bezeichnet (2–3’000 Fr. jährlich). Die Aktivitäten beruhten weitgehend auf Freiwilligenarbeit, den Mitgliedern hätte es nicht an Geld gefehlt, aber sie hätten sich bei den Mitgliederbeiträgen wie bei der Entlöhnung ihrer Dienstboten auf ein Minimum beschränkt (S. 608 f.). Besonders deutlich wird die Beteiligung schweizerischer Akteure an Kolonialunternehmen im Falle des Genfers Gustave Moynier, der als Mitbegründer des IKRK bekannt ist, hingegen weniger als Kolonialist: Er war enger Rechtsberater des belgischen Königs Leopold II. bei der zunächst als philanthropisch etikettierten Errichtung des Kongo-Freistaates. Moynier war auch dessen konsularischer Vertreter in der Schweiz und Gründer der Zeitschrift «L’Afrique explorée et civilisée». (S. 525 f.) Moynier unterschied ungerechtfertigte und gerechtfertigte Eroberungen und verstand unter letzteren solche, die aus moralischer und intellektueller Überlegenheit («superiorité») stattfänden (S. 564).

Wie andere Studien konstatiert Rossinelli, in der Schweiz seien die «faits inhérents au colonialisme» während längerer Zeit vergessen und verdrängt worden (S. 45). Mit seiner konzeptionell überzeugenden und empirisch fundierten Studie leistet insbesondere auch seine Auswertung der Publizistik der geografischen Vereinigungen einen wertvollen Beitrag zum Abbau dieses Defizits. Dies berechtigt ihn auch, Vorbehalte gegenüber einer postkolonialen Schule anzumelden, die oft oberflächlich bleibe, wenn sie sich auf diskursive und semantische Aspekte beschränkt und sich nicht für die materiellen Ursachen interessiert, aus denen die Stereotypen zu den kolonisierten Völkern hervorgingen (S. 52).

Zitierweise:
Kreis, Georg: Rezension zu: Rossinelli, Fabio: Géographie et impérialisme. De la Suisse au Congo entre exploration géographique et conquête coloniale, Neuchâtel 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 466-468. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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